Die Ernte dürftig – die Hirten erschöpft – zu Matthäus 9, 36-10,8

Ach, waren das noch Zeiten. Als die Leute in Scharen kamen: Damals bei Jesus und bis in die 60er Jahre auch noch zur Kirche. Auch an Hirten fehlte es nicht. Anfang der 30er Jahre gab‘s in manchen deutschen Priesterseminaren sogar einen Numerus clausus.

Doch das war einmal. Das Angebot der Kirche ist derzeit kaum noch gefragt. Selbst im Umfeld von Sterben und Tod haben die Kirchen ihre Monopolstellung verloren. „Sehnsucht nach Stärkung und Wegweisung im Glauben, Sehnsucht nach kirchlicher Nähe“ – das gibt es auch heute, aber nur noch punktuell.

Corona zeigte es ganz deutlich. In den vielen, anfangs fast täglichen Sondersendungen und Diskussionsrunden des Fernsehens waren Kirchenvertreter weder gefragt noch wurden sie vermisst. Nicht nur, weil sie mit der Aufarbeitung des Missbrauchs genug mit sich selbst zu tun hatten. „Was hätten sie denn schon beizutragen?“, fragten nicht nur Außenstehende, sondern war auch das achselzuckende Empfinden vieler kirchlich Verbundener. Hat die Botschaft des Glaubens ausgedient, mit dem tatsächlichen Leben nichts mehr zu tun?

Dasein für den Menschen …

Im Evangelium wird berichtet, dass Jesus die vielen Menschen sah – dass er spürte, wie müde und erschöpft sie waren und dass er Mitleid mit ihnen hatte. Ist die Situation der Menschen heute sehr viel anders als damals? Sind nicht auch heute viele müde und erschöpft – kraft-, halt- und orientierungslos? Die Zahl derer, die unter Depressionen leiden, die eine Burnout-Diagnose haben, nimmt unentwegt zu.

Ärzte können ein Lied davon singen – und Psychologen auch. Die Beratungsstellen der Caritas sind gefragt – das kirchliche Seelsorge- und Verkündigungsangebot dagegen nur wenig.

Im Evangelium wird berichtet, dass Jesus die Menschen sah, dass er ihre Not spürte und für sie da war. Und wir wissen, dass seine Predigten alles andere als salbungsvolle Worte oder fromme Allgemeinplätze waren. Er hat sich nicht gescheut, den Finger auf die vielfältigen Wunden zu legen. Offen und geraderaus sprach er die eigentlichen Nöte an: „Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus“, lautet deshalb auch die Sendung der Zwölf.

Dabei sollen sie nicht warten, dass die Menschen zu ihnen kommen. „Geht und verkündet“, lautet der Auftrag Jesu. Geht zu den Menschen, geht und lasst sie erfahren, dass sie euch mit ihren tieferen Nöten und Fragen wirklich am Herzen liegen. Seid nah dran am Menschen, sprecht mit ihnen über die Sehnsüchte und Nöte hinter ihren Fragen – über das, was in der Tiefe schmerzt und belastet – sich nach Leben sehnt. Vor allem: lasst sie spüren, dass ihr selbst nicht drübersteht, sondern auch ihr eine befreiende, heilschenkende Perspektive für euer Leben nötig habt – dass ihr ganz genauso wie sie von der Verheißung lebt: „Das Himmelreich ist nahe.“

… und ihnen Gottes Reich nahebringen

Mit der Botschaft vom Reich Gottes hatten die Menschen ja schon zur Zeit Jesu ihre Probleme. Die Apostel fragten ihn noch vor seiner Himmelfahrt, ob er jetzt das Reich Gottes wiederherstelle – und sie dachten dabei vor allem an die Befreiung von der römischen Besatzung.

Befreiung und Freiheit gehören in der Tat zum Kern der Botschaft vom nahen Gottesreich. Und dazu gehört natürlich auch das Benennen vielfältiger politisch-gesellschaftlicher Unterdrückung, dazu gehört das Aufbrechen von Situationen und Strukturen, die Unfreiheit erzeugen.

Doch Unfreiheit hat noch andere Dimensionen. Sie kann noch sehr viel tiefer im Menschen sitzen und ihr Unwesen treiben. Punktuell hat vermutlich schon jede*r erlebt, wie Angst und Hoffnungslosigkeit, wie Selbstzweifel und Selbstvorwürfe, wie Unversöhnlichkeit und Ablehnung einen regelrecht gefangen nehmen und in Resignation und Verzweiflung treiben können.

Und Jesus ruft damals wie heute dazu auf, Augen, Herz und Mund gerade angesichts dieser Nöte nicht zu verschließen, sondern diese inneren Fesseln mit der kraftvollen Botschaft der Liebe Gottes, mit der Nähe des Himmelreichs in Berührung zu bringen.

Neue Lebendigkeit

Schon oft durfte ich erfahren, wie befreiend es für Menschen ist, wenn sie erleben, dass die Botschaft von Gottes bedingungsloser Liebe auch und gerade ihren tiefsten Nöten gilt. Dem, was ihnen angetan wurde und dem, was sie selbst getan haben. Sei es in Krieg oder Gefangenschaft, beim Verwickeltsein in Lüge und Betrug, in Abtreibung oder Missbrauch, in zwischenmenschlichen Bitterkeiten bis hin zum Hass, bei der Erfahrung von Bedroht- und Ausgeliefertsein etwa angesichts von Corona und Kriegsgefahr.

Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Damals wie heute sind die Nöte groß. Vieles, ja unser ganzes Leben schreit förmlich nach der Begegnung mit Seiner Liebe – ist „reif zur Ernte“. Doch wer bringt das Licht Christi in das menschliche Dunkel? Viele – Haupt- wie Ehrenamtliche –  sind selbst erschöpft. Sie bräuchten zunächst selbst die befreiende Erfahrung der Begegnung mit IHM, damit sie aus einer neuen inneren Lebendigkeit weitergeben können, was sie selbst empfangen haben.

P. Hubert Lenz, SAC
(veröffentlicht in Paulinus 25/2023 vom 18.06.2023)